Auszug aus Thomas Sugrue “There Is a River - Die Geschichte eines schicksalhaften Lebens” - Seite 157-163
[… Die beiden Blackburns, Beazley und Reardon waren Mitglieder des örtlichen E. Q. B. Literary Clubs. Ohne offiziellen Auftrag oder einen bestimmten wissenschaftlichen Zweck begannen Sie sich für Edgars Readings zu interessieren, um Fakten und Beweise für die Akten des Clubs aufzuzeichnen. Die Haltung Ihres Berufsstandes gegenüber faulem Zauber und Schwindeleien jeder Art war ihnen wohl bewußt, aber sie hatten auch Bücher studiert wie Thomson J. Hudsons The Law of Psychic Phenomena und wußten einiges über die Experimente mit Hellseherei und dem Somnambulismus, die schon seit über hundert Jahren in Europa betrieben wurden. Im 18. Jahrhundert, schon vor den Entdeckungen von Mesmer und de Puysegur, schrieb ein Pionier namens Maxwell: »Es gibt keine Krankheit, die nicht durch einen Geist des Lebens, ohne die Hilfe eines Arztes, geheilt werden kann... Das Universale Heilmittel ist nichts anderes als ein Erstarken des Lebensgeistes im jeweiligen Subjekt.« Maxwell fand ein Mittel, diese natürliche Heilungskraft zu stimulieren, und nannte diesen Vorgang »Magnetismus«. 1784 entdeckte de Puysegur die Hypnose, als er versuchte, Victor, einen Hirtenjungen, zu magnetisieren: Victor fiel in eine tiefe Trance und begann zu sprechen; er diagnostizierte das Leiden eines ihm nahestehenden Menschen. In den folgenden Generationen wurden ähnlich »sensitive« Menschen in Frankreich, Deutschland und England gefunden. Man studierte das Phänomen sorgfältig; die besten Wissenschaftler beschäftigten sich damit und schrieben Bücher darüber. Der ›Somnambulismus‹ wurde Mode. Die Leute gingen lieber zu einem Somnambulen als zu einem Arzt, und die Resultate waren anscheinend so erfolgreich wie erstaunlich. Die Hypnose-Medien schienen unfehlbar im Diagnostizieren, und die Heilmittel, die sie empfahlen, waren einfach und - betrachtet man die Erfolge - hilfreich. Es überrascht natürlich zu erfahren, daß Menschen seinerzeit ein Hypnose-Medium dem Arzt vorzogen, aber damals war die Medizin in einem Zustand dunkelster Ignoranz. Als man dem französischen Schriftsteller Montaigne einen Arzt schicken wollte, bat er, man möge ihm doch erlauben, daß sich seine Kräfte von selbst wieder erholten, damit er der Krankheit besser widerstehen könnte. Auf der anderen Seite verschrieben die »Somnambulen« selten eine »gewaltsame« Therapie und stellten oft fest, daß ein Leiden psychische Ursachen hatte, und wie diese behoben werden konnten. Was sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Material über den Somnambulismus angesammelt hat, hat überwältigende Beweiskraft für die Realität des Phänomens. Carl du Prel, der in Die Philosophie des Mystizismus über das Thema schrieb, zitierte eine ganze Reihe von Quellen und sagte voraus, daß einer der genannten Autoren, Dr. Justinus Kerner, einer der meistgelesenen im nächsten Jahrhundert sein würde. Dr. Kerner schrieb über Frau Hauffe, die »Seherin von Prevorst«, eine so sensitive »Somnambule«, daß sie »beim Herannahen eines Patienten, sogar noch vor der Begegnung und lange danach, das gleiche Gefühl an der gleichen Stelle empfinden konnte wie der Patient, dem sie zu seiner großen Verwunderung all seine Leiden genau beschreiben konnte, ohne daß sie zuvor von ihm irgendwelche Kunde erhalten hätte.« Viele Somnambule und Medien erlebten diese Übertragung der Symptome des Patienten auf sich selbst. Man nannte sie daher »sensitiv«. Andere, besonders diejenigen, die in Tieftrance gingen, erinnerten sich beim Erwachen weder an das, was sie gesagt hatten, noch fühlten sie sich irgendwie krank. Diese Medien nannte man »intuitiv«. Die Sensitiven litten ständig, da sie die Schmerzen der Menschen ihrer Umgebung auf- und wahrnahmen, und standen dauernd in der Gefahr, vorübergehend zu erblinden oder melancholisch zu werden, je nach dem, was die untersuchte Person in ihrer Nähe gerade durchlitt. Der Intuitive dagegen hatte es ziemlich leicht. Er legte sich schlafen, wachte wieder auf, und seine Arbeit war getan. Man hatte viele Versuche gemacht, um nachzuweisen, daß in diesem Zustand der tiefen Trance der ganze Mechanismus der körperlichen Funktionen des Mediums sich in einen Bereich »zurückzog«, der außerhalb menschlicher Reichweite lag. Ein Medium bekam beispielsweise einen Apfel zu essen. Dann ging es in Trance und bekam in diesem Zustand etwas ganz anderes zu essen, z. B. ein Stück Tortengebäck. Das Medium aß das Stück Gebäck, ließ es sich schmecken und beschrieb den Geschmack ganz genau. Beim Erwachen aber war nur noch der Geschmack des Apfels auf der Zunge des Mediums. Einmal wurde eine »Intuitive« sechs Monate lang in Trance gehalten. In dieser Zeit wurde sie an einen anderen Ort gebracht. Sie gewöhnte sich an den neuen Wohnort, das neue Haus und lebte dort, kochte, putzte und unterhielt sich. Als sie schließlich geweckt wurde, fand sie sich in ihrer Umgebung überhaupt nicht mehr zurecht. Als die Bücher über den Somnambulismus die Druckerpressen verließen, schlossen sich die orthodoxen medizinischen Disziplinen zur Opposition zusammen. Mesmer wurde als Betrüger verdammt und zusammen mit ihm alle Entdeckungen auf diesem Gebiet, auch wenn sie von anderen Forschern gemacht worden waren. Die Hoffnung auf eine neue Diagnoseart körperlicher Leiden - ein im Menschen innewohnendes und geradezu zauberhaft sicheres System - begann wieder zu schwinden. Du Prel berichtet über eine der »Untersuchungen«, wie sie seinerzeit angestellt wurden: »Als im Jahre 1831 die professionelle Kommission, die sich seit ihrer Einberufung einige Jahre zuvor mit diesen Forschungen beschäftigte, ihren Bericht abgab, der alle Phänomene, die dem Somnambulismus zugeschrieben worden waren, bestätigte - wie man in der Pariser Medizinischen Akademie nachlesen kann -, herrschte tiefe Stille im Auditorium; die Versammlung war sehr verstört. Als dann - wie es üblich war - vorgeschlagen wurde den Bericht zu drucken, erhob sich ein Mitglied der Akademie, Castel, und protestierte dagegen, ›weil - wenn die berichteten Tatsachen wahr wären - die Hälfte unserer Wissenschaft nichts mehr wert wäre‹.« Fünfundsiebzig Jahre später war der Somnambulismus alles andere als in Vergessenheit geraten; die orthodoxe Medizin stand vor dem Beginn einer neuen Ära. Als also die Blackburn-Brüder und ihre Kollegen das Studium des intuitiven Somnambulen Edgar Cayce aufnahmen, gingen sie mit dem gleichen Skeptizismus an dieses Unterfangen, wie er hundert Jahre zuvor in ihn Ihrem Berufsstand geherrscht hatte. Sie versuchten die gleichen Tests und erhielten die gleichen Resultate. Edgar wurde um ein Reading für die Mutter eines örtlichen Dentisten gebeten. Sie lebte in einer Nachbarstadt. Name und Adresse wurden angegeben, nachdem Edgar im Tiefschlaf war. Er diagnostizierte ihr Leiden und zeigte ein Behandlungsschema auf. Danach bat man ihn, den Raum zu beschreiben, in dem die Frau lag. Er gab die Farbe der Wände an, welche Bilder daran hingen, wo die Fenster waren und wo das Bett stand. Er sagte, wo der Stahl für die Bettfedern herkam, und zählte die Städte auf, in denen die verschiedenen Teile des Bettes hergestellt worden waren. Die Ärzte überprüften diese Informationen, soweit es möglich war. Die Beschreibung des Zimmers stimmte in jeder Einzelheit. Es war ihnen jedoch nicht möglich, dem Stahl, die Baumwolle und das Holz des Bettgestells zurückzuverfolgen. Eine Frau in Tennessee, die keine Erleichterung ihrer Krankheit finden konnte, stellte sich freiwillig als Versuchs-Patientin zur Verfugung. Sie hätte, gab Edgar in Trance an, eine Fleischwunde im Magen. Den Rat der Ärzte sollte sie nicht befolgen. Statt dessen sollte sie jeden Morgen eine Zitrone nehmen, sie auf einer harten Unterlage kräftig rollen, in zwei Hälften schneiden und eine davon essen. Dann sollte sie so weit gehen, wie sie könnte, kurz ruhen, und wieder nach Hause zurückkehren. Dort sollte sie die andere Hälfte der Zitrone mit Salz bestreuen, essen, und mindestens zwei Gläser Wasser sofort hinterher trinken. Die Ärzte hielten diesen Rat zuerst für einen Scherz. Die Patientin jedoch entschied sich, ihn zu befolgen. Nach wenigen Wochen berichtete sie, daß sie sich wohlfühle, inzwischen mehrere Meilen gehen könne und das Essen wieder vertrüge. Man nahm noch andere Readings, und sie alle hatten die irritierende Eigenschaft, daß sie stimmten. Ein Mann in Bowling Green schrieb an einen Bekannten in New York und erzählte ihm über Edgars Kräfte. Der Mann behauptete, die ganze Sache wäre eine Betrügerei. Eines Morgens machte man ein Experiment: Edgar sollte den Mann in New York ausfindig machen und seinen Weg zum Büro verfolgen. Edgar folgte ihm in Trance zu einem Zigarren-Geschäft, dann in sein Büro, wo er einen Teil seiner Post durchlas und über Telefon-Gespräche berichtete. Der Text des Readings wurde dem Zweifler sofort telegrafisch durchgegeben. Er kabelte zurück: »Stimmt alles genau. Komme nach Bowling Green.« Er kam tatsächlich und versuchte, Edgar zu überreden, mit ihm nach New York zu kommen. Dort würden sie, versprach er, eine Million Dollar verdienen. Edgar lehnte ab. Im Herbst 1906 machte der E.Q.B. Literary Club die Hypnose zum Thema eines seiner monatlichen Dinner-Treffens. Edgar wurde eingeladen, um für Demonstrationszwecke ein Reading zu geben. Die meisten Ärzte der Stadt sollten anwesend sein, auch viele aus den umliegenden Ortschaften. Edgar aß schon vorher zu Hause, um die optimalen Bedingungen für das Reading zu schaffen. Blackburn rief ihn an. Gertrude, nervös und ängstlich besorgt, nahm ihm ein Versprechen ab: »Versprechen Sie mir, daß Sie keine Tricks mit Edgar versuchen, während er schläft«, bat sie Blackburn. »Ich möchte nicht, daß Nadeln in ihn gesteckt werden oder ähnliches dummes Zeug geschieht. Ich will, daß er im gleichen guten Zustand wiedergebracht wird, in dem er das Haus verläßt.« »Ich werde auf Edgar aufpassen«, versprach Blackburn. Beim Club-Treffen legte sich Edgar auf die Couch, die vor das Podium gestellt worden war, und ging in Tieftrance. Dann Wurden ihm Name und Adresse eines College-Studenten angegeben, der krank in einer Pension vor der Stadt lag. Der junge Mann war Patient eines der anwesenden Ärzte. »Ja, wir haben den Körper«, begann Edgar. »Er erholt sich gerade von einem Anfall; er hat Bauchtyphus. Der Puls ist 96, die Körpertemperatur 38,5° C.« Der Arzt, um dessen Patient es ging, bestätigte die Diagnose Drei Ärzte wurden in jene Pension geschickt, um Puls und Temperatur-Angaben zu überprüfen. Nachdem sie auf dem Weg waren, kam eine hitzige Diskussion auf, in welchem Zustand des Bewußtseins oder Unbewußten Edgar sich befände. Einige hielten es für Hypnose, andere für Trance, wieder andere sprachen von einem Traumzustand. Sie wollten es genau wissen. Trotz Blackburns massiven Protests stach einer von ihnen mit einer Nadel in Edgars Arme, Hände und Füße. Edgar reagierte nicht. Ein anderer Arzt verließ den Raum, um mit einer Hutnadel wiederzukehren, die er ganz durch Edgars Wangen steckte. Noch immer war keine Reaktion zu beobachten. »Er ist abgehärtet gegen solch leichte Reize«, meinte einer der Ärzte. Er klappte sein Taschenmesser auf und stieß die Klinge unter den Nagel von Edgars linkem Zeigefinger. Langsam hob er den Nagel aus dem Nagelbett. Edgar schien keinen Schmerz zu spüren, auch Blut floß nicht. Der Arzt zog das Messer wieder zurück. Plötzlich wachte Edgar auf. Schmerz durchfuhr ihn. Die Ärzte begannen Entschuldigungen zu murmeln. »Nur ein paar wissenschaftliche Tests«, beschwichtigten sie. Man hätte ihm nichts antun wollen. Edgar verlor seine Beherrschung. Er wandte sich wütend an Blackburn und seine Kollegen: »Mir reicht es jetzt«, rief er. »Ich habe Sie alles mit mir tun lassen, was Sie wollten. Ich habe Ihnen meine Zeit geopfert und habe nicht einmal darum gebeten, daß Sie auch nur höflich genug sind, mich wenigstens ernst zu nehmen. Ich dachte, Sie wollten die Wahrheit herausfinden. Aber darum geht es Ihnen ja gar nicht. Nichts wird Sie je überzeugen Nichts wird auch nur einen von Ihnen je überzeugen. Ganz gleich, wieviel Wunder Sie noch sehen werden: Sie werden nie etwas glauben oder anerkennen, das Ihre Selbstgefälligkeit aufstört. Sie halten es für selbstverständlich, daß jedermann in der Welt verrückt ist - außer Ihnen selbst, natürlich. Und so werden Sie nie einen Beweis für die Ehrlichkeit eines anderen akzeptieren. Ich werde nie versuchen, einem von Ihnen irgend etwas zu beweisen. Ich werde nie mehr ein Reading geben, außer für jemanden der Hilfe braucht und glaubt, daß ich sie ihm geben kann!« Edgar verließ den Saal. Der Nagel an Edgars Finger wuchs nie mehr gerade nach. Den ganzen Winter hindurch eiterte er noch und war sehr empfindlich und erinnerte ihn an das Messer, das sein Geheimnis ergründen wollte, indem es von seinem Fleisch kostete. Das würde ihm nie wieder passieren. Die E. Q. B. Literary Club-Forschungsgruppe hatte sich aufgelöst. Die Inquisitoren seines Gewissens jedoch blieben, und ihre Fragen setzten ihm mehr zu als alles, was ihm damals nach dem Dinner angetan wurde. War diese seltsame Gabe eine Tugend oder ein Laster? Grundsätzlich hatte sie nur einen erschreckenden Aspekt: Man konnte sie nicht erklären, man konnte sie nicht verstehen. Sollte er von ihr Gebrauch machen, oder sollte er es nicht? Würde sich ein schädlicher Einfluß auf seine Kinder ergeben, oder würde es enden, wie es begonnen hatte: mit ihm selbst - wie ein vom Normalen abweichender Arm des Schicksals, den es ausstreckte, um seinen Frieden und sein Glück zu erdrosseln? Edgar war vor den Wissenschaftlern geflohen, aber er konnte nicht vor sich selbst fliehen. Es war nie ein angenehmes Gefühl gewesen zu wissen, daß eine Kraft durch ihn floß, die jenseits des Zugriffs menschlichen Wissens war und darauf wartete, entdeckt zu werden, wie ein unterirdischer Strom, der unter einer stillen Wiese floß. Aber da gab es noch eine größere Unruhe, aus der oft ein Angststurm hervorkam, der alle anderen Gedanken überlebte. Jetzt stand er ihm an jeder Wegbiegung gegenüber. Was wäre wenn er diese seltsame Begabung seines Geistes an einen Sohn oder eine Tochter weitergäbe? Gertrude hatte die gleiche Angst, aber ihre Liebe zum »normalen Edgar, zu dem freundlichen, hellwachen jungen Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, war so groß, daß sie dem trotzte, was in ihm lag - was auch immer es war -, und es in das heilige Geheimnis ihrer Liebe einschloß. Sie sah während jener Monate irgendwie stolz und zuversichtlich aus, und ihre Augen verwehrten jedem das Herannahen, der nicht ein Freund des Himmels und des Guten war. Sie warteten auf den Frühling. …]
Anmerkung: Auf Seite 334 wird außerdem noch der Name eines weiteren Mannes genannt, der auch in den USA lebte, und das gleiche tat wie Cayce; aber knapp Hundert Jahre vor ihm. Es war Jackson Davis, der Seher und Hellsichtige von Poughkeepsie, der 1847 das Buch »Die Prinzipien der Natur, ihre göttliche Offenbarungen, und ein Appell an die Menschheit« veröffentlichte.
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