Auszug aus Thomas SugrueThere Is a River - Die Geschichte eines schicksalhaften Lebens” - Seite 118-124

 

 

 

 

 

[…   Jedermann in Hopkinsville ging in Holland's Opera House, als Hart, der Lach-König, in die Stadt kam; er erntete Lachsalven, wenn er Leute unter Hypnose die unmöglichsten Dinge tun ließ: Himmel-und-Hölle-spielen, Fische nachahmen, auf nicht vorhandene Leitern klettern, imaginäre Deckchen häkeln usw. Die Leute liebten es, ihre Vettern, Freunde und Feinde zu beobachten, wie sie solchen Unsinn machten. Wenn sich keine Freiwilligen meldeten, setzte Hart sich auf die Bühne und hypnotisierte das ganze Publikum, wiegte sich langsam auf seinem Stuhle vor und zurück, während er mit monotoner, beschwörender Stimme sagte: »Schlaft... schlaft... schlaft...« Anschließend ging er durch das Publikum und suchte sich die heraus, die seinen Beschwörungen unterlegen waren. Er sprach auf sie ein, machte schnelle Striche mit der Hand vor ihren Augen, und sie erwachten wieder.

Gewöhnlich forderte er auch eine Gruppe auf, auf die Bühne zu kommen - er nannte sie seine »Klasse«. Die nicht auf seine Striche und Worte reagierten, wurden ausgeschieden, die anderen blieben zur Publikumsbelustigung. Auch Edgar ging einmal mit einigen seiner Freunde auf die Bühne, wurde aber ausgeschieden.

Hart hatte eine eigene Truppe, darunter einen Mann, der unter Hypnose angewiesen wurde zu erstarren. Dann wurde ein großer Stein auf seine Brust gelegt, und ein anderes Mitglied der Truppe Schlug mit einem schweren Schmiedehammer auf den Stein ein, bis dieser zersprang. Es gab noch andere ähnlich aufsehenerregende Vorführungen, insbesondere eine Demonstration, die geradezu zum Paradepferd von Harts Zirkus geworden war. Ein Freiwilliger, Einwohner des gerade besuchten Ortes, bekam den Auftrag, einen Gegenstand irgendwo in der Stadt zu verstecken. Dann verfolgte Hart mit verbundenen Augen in einem Zweispänner - zu beiden Seiten saß je ein Mann, der sein Handgelenk festhielt - den Weg des Mannes, sagte dem Kutscher genau, wo er abzubiegen hätte, und fand so schließlich den versteckten Gegenstand. Bei dieser Vorführung versagte Hart niemals, aber ebensowenig gelang es ihm je, seine Skeptiker davon zu überzeugen, daß hier kein Schwindel vorlag.

Gewöhnlich blieb Hart zehn Tage bis zwei Wochen in der Stadt und reiste weiter, wenn die Besucherzahlen nachließen. Hart war mittelgroß mit hellbraunem, wehendem Haar und grünen Augen, die ungewöhnlich hell und wach schienen. Er trug keinen langen Mantel und gebrauchte keine besonderen Lampen oder sonstige Utensilien, sondern schrieb seine Kräfte der »neuen Wissenschaft« - Hypnose und Hellsehen - zu.

Hypnose war zu jener Zeit im ganzen Land eine beliebte Unterhaltung. Die Französische Akademie der Wissenschaften hatte Mesmer und seine Theorien verschmäht, und obgleich in der Folgezeit viele Wissenschaftler von Rang mit Hypnose gearbeitet haben - unter Begriffen wie Schlafwandeln und Magnetische Therapie -, konnte die Hypnose bei den Wissenschaften und der Medizin doch nie einen guten Ruf gewinnen. In den Vereinigten Staaten hatte sie sowohl ihre begeisterten Anhänger wie Nutznießer. Ein New Yorker Arzt, Dr. John P. Quackenboss, sagte, die Hypnose wäre die Medizin der Zukunft, die jede Krankheit heilen könnte, indem sie das Unterbewußtsein des Kranken anwiese, die Krankheitsursache zu beseitigen und die Wunde zu heilen. In Nevada, Missouri, wurde eine Schule für »Suggestive Therapien« gegründet, in der S.A. Weltmer sogar Fernkurse für die Interessierten anbot, die die Schule nicht persönlich besuchen konnten. Von Zeit zu Zeit stellte jedes Theater, jeder Veranstalter im Lande einen »Professor« vor, der sich erbot, jeden Menschen im Publikum hynotisch unter seine Kontrolle zu bringen.

Hart war von Beruf kein Therapeut, sondern durch und durch Schausteller. Als einige Leute in der Stadt ihm von Edgars Problem erzählten, nahm er dies als Herausforderung an. Für 200 $, bot er an, würde er die Heiserkeit heilen. Hätte er keinen Erfolg, so würde er für seine Bemühungen kein Honorar nehmen. Edgars Freunde drängten ihn einzuwilligen. Dr. Manning Brown lächelte und meinte: »Warum nicht?« Der Richter Cayce {sein Vater} hielt es für eine gute Idee. Er hatte nie vergessen, wie Edgar sich einst selbst geheilt hatte, indem er sich selbst eine Packung verordnete.

»Er soll dich in Schlaf versetzen, und dann sehen wir, was geschehen wird«, sagte er. »Schaden kann er dir nicht.«

Das Experiment fand in Dr. Browns Praxis statt. Edgar saß in einem Sessel und tat sein Bestes, um mitzuarbeiten. Hart begann, auf ihn einzureden, winkte mit den Händen und nahm schließlich einen glänzenden Gegenstand von Dr. Browns Instrumententisch zu Hilfe.

»Schauen Sie darauf«, gebot er. »Schauen Sie es ganz genau an. Sie werden nun einschlafen, einschlafen... einschlafen... schlafen... schlafen... schlafen.«

Als Edgar sich wieder des Geschehens um sich herum bewußt war, standen alle um ihn und lächelten: Dr. Brown, der Richter {sein Vater} und Hart.

»Sagen Sie etwas«, forderte Hart ihn auf.

»Bin ich richtig unter Hypnose gewesen?« fragte Edgar.

Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Sie hatte sich nicht verändert.

Die Männer lächelten nicht mehr.

»Unter dem Zauberbann haben Sie ganz normal gesprochen«, sagte Dr. Brown.

»So, wie ich deine Stimme seit je kenne«, ergänzte der Richter.

»Sie waren gut«, meinte Hart. »Aber mit dem posthypnotischen Befehl hat es nicht geklappt. Wir werden es wieder versuchen, wenn Sie sich ausgeruht haben. Ich bin sicher, daß wir es schaffen werden. Sie haben normal gesprochen, und das ist die Hauptsache.«

Er lächelte wieder; die anderen Männer nickten. Beim nächsten Mal würde der posthypnotische Befehl sicher erfolgreich sein.

Aber das war er nicht! Sie versuchten es am Nachmittag desselben Tages noch einmal, aber als Edgar erwachte, war er noch heiser, obwohl er unter Hypnose wieder gesprochen hatte. Sie fragten ihn, wie sich sein Hals anfühlte. Dr. Brown untersuchte ihn. Er konnte keine Veränderung feststellen. Der Hals schien genauso zu sein wie schon die ganze Zeit, in der Edgar die Beschwerden hatte.

»Er erreicht die zweite Stufe der Hypnose«, erklärte Hart. »Aber dann passiert irgend etwas. Er kommt einfach nicht weiter zur dritten Stufe, wo er für den posthypnotischen Befehl zugänglich wäre. Aber ich bin sicher, daß wir das einmal schaffen werden. Wir werden es weiter versuchen.«

Hart wollte nun sein Bestes geben. Jedermann in der Stadt wußte von den Versuchen, und die örtliche Zeitung schrieb darüber. Professor William Girao, der am South Kentucky College Psychologie lehrte, bat um Erlaubnis, bei den Versuchen anwesend zu sein. Er war ein kleiner Mann, Italiener, mit großen, tiefliegenden Augen und einem Schnurrbart. Er schwieg während der Hypnose, machte Notizen und stellte Hart gelegentlich Fragen.

Schließlich mußte Hart aufgeben. Er mußte Hopkinsville verlassen, um seine Tournee Termine einzuhalten. Obgleich er sein Glück immer wieder versuchte, wenn er einmal in die Nähe kam, mußte er doch zugeben, daß er versagt hatte.

»Er nimmt einfach den posthypnotischen Befehl nicht an«, teilte er Girao mit. »Er kommt nicht weiter als bis zur zweiten Stufe.«

Girao schrieb einen Bericht über die Versuche und schickte ihn zusammen mit einigen Zeitungsausschnitten aus der Hopkinsviller New Era an Dr. Quackenboss in New York. Dr. Quackenboss zeigte sich an dem Fall interessiert und nahm die Korrespondenz mit Girao auf. Eines Tages im Herbst tauchte er plötzlich in Hopkinsville auf und wollte seine Geschicklichkeit an Edgar versuchen.

Er war ein flinker Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, freundlich und geduldig gegenüber seinen Patienten. Er stellte eine Menge Fragen, hörte sich des Richters Cayce Bericht über die Kindheits-Erlebnisse seines Sohnes an, machte reichlich Notizen und begann dann seine Versuche. Er hatte nicht mehr Erfolg als Hart. Edgar gelangte nicht über die zweite Stufe hinaus und nahm die posthypnotischen Befehle nicht an. Bei einem letzten Versuch versetzte ihn Dr. Quackenboss in einen »tiefen Schlaf... einen sehr tiefen Schlaf... einen sehr, sehr tiefen Schlaf«.

Edgar schlief vierundzwanzig Stunden lang; jeder Versuch, ihn früher zu wecken, blieb erfolglos. Jedermann war entsetzt; die 11 Ärzte der Stadt hatten sich zur Beratung versammelt. Als der Patient schließlich erwachte, fühlte er sich ganz normal, wie nach einem guten Nachtschlaf. Er fühlte sich wohl, sagte er, doch seine Stimme war nicht besser. Tagelang konnte er danach nicht schlagen, außer kurzen Ruhezeiten. Dann hatte er den »sehr tiefen Schlaf« überwunden, und Dr. Quackenboss fuhr erleichtert, aber noch immer verwundert, wieder ab.

Aus New York schrieb er Girao, daß er nun beim Überdenken des Falles und seiner Erlebnisse in Hopkinsville zu dem Schluß gekommen sei, daß es eine Lösung geben müßte. An dem Punkt, an dem Edgar sich weigerte, weitere Suggestionen anzunehmen, schien er die Sache irgendwie selbst in die Hand zu nehmen, meinte Dr. Quackenboss. Wenn der Hypnotiseur an diesem Punkt vorschlüge, daß der Patient selbst über seinen Fall spräche, könnte man vielleicht zu einem interessanten Ergebnis gelangen. Aus Frankreich wurden solche Dinge berichtet, schon viele Jahre zuvor: Patienten zeigten unter Hypnose hellseherische Kräfte. Es war nur noch die Frage, ob jene Berichte der Wahrheit entsprachen oder nicht, aber die Chance, Erfolg zu haben, war der Mühe wert.

Der einzige Hypnotiseur in Hopkinsville war Al C. Layne, ein schmächtiger, zarter Mann, dessen Frau das Modewarengeschäft innehatte, wo Annie Cayce, Edgars Schwester, arbeitete. Layne war etwas kränklich; er besorgte die Buchhaltung für seine Frau und studierte zum Zeitvertreib suggestive Therapien und Osteopathie über einen Fernkurs. Die Berichte über die Versuche in Dr. Browns Praxis hatte er mit größtem Interesse verfolgt. Als er von Annie erfuhr, daß ihr Bruder und Girao nach einem Hypnotiseur Ausschau hielten, bat er um eine Chance, sein Glück bei Edgar zu versuchen.

Edgar war bereit, seine Eltern jedoch hatten Einwände. Seit dem ersten Versuch hatte er Gewicht verloren, er war nervös, mürrisch und reizbar geworden.

Richter Cayce, der anfangs noch auf eine Heilung hoffte, war nun überzeugt, daß auch die Hypnose nicht mehr oder besser helfen konnte als die Medizin.

»Zuerst kamen die Ärzte, einer nach dem anderen, und behandelten Edgar, als sei er eine kranke Sau«, sagte er zu seiner Frau, »und jetzt tun die Hypnotiseure das gleiche. Sie werden den Jungen noch verrückt machen.«

»Es geht ihm nicht gut«, antwortete Mutter, »er ißt nichts und schläft nicht mehr.«

Edgar bat um einen Kompromiß: Layne sollte einen Versuch nach den Angaben und Vorschlägen von Dr. Quackenboss machen. Bliebe dies ohne Erfolg, würde er sich keiner weiteren Hypnose mehr unterziehen.

Widerstrebend gaben die Eltern ihre Zustimmung. Annie brachte Layne ins Haus und stellte ihn vor. Das schmächtige Männchen wog kaum mehr als einen Zentner, sein Haar wurde schon grau. Er war wohl zwischen 35 und 40 Jahre alt, wenn seine offensichtliche Krankheit eine Schätzung auch schwermachte. Er wolle den Versuch so bald wie möglich machen. Man einigte sich auf einen Termin am folgenden Sonntagnachmittag, am 31. März 1901.

Girao konnte nicht kommen. Layne kam um ca. 14.30 Uhr an. Die Mädchen hatten das Mittagessen-Geschirr gespült und waren draußen; Edgar und seine Eltern waren im Wohnzimmer. Edgar schlug vor, sich selbst in Schlaf zu versetzen - wie er es ja auch tat, wenn er über Büchern schlief - und Layne sollte dann, wenn er offensichtlich fest schliefe, versuchen, mit ihm zu sprechen. Er hatte herausgefunden, erzählte er Layne, daß es – ganz gleich, was der Hypnotiseur tat - seine eigenen Gedanken seien, die ihn einschläferten. Layne meinte daraufhin, daß sie um so mehr erreichen könnten, je mehr Edgar aus seinem eigenen Entschluß tun könnte. Er war einverstanden mit der Selbsthypnose oder »Autohypnose«, wie er es nannte.

Edgar legte sich auf dem Sofa nieder, einem Roßhaar-Sofa, das einst Teil der Aussteuer seiner Großmutter väterlicherseits war. Er brachte sich selbst in Tiefschlaf.

Layne beobachtete, wie die Atmung tiefer wurde. Nach einem langen Seufzer schien der Körper Edgars eingeschlafen zu sein. Richter Cayce saß daneben auf einem Stuhl. Seine Frau, zu nervös, um sich zu setzen, stand dabei. Mit tiefer, beruhigender Stimme begann Layne zu sprechen. Er schlug vor, daß Edgar seinen eigenen Körper sähe und genau beschriebe, welche Schwierigkeiten im Halse vorlagen. Edgar sollte dabei ganz normal sprechen.

Nach wenigen Minuten begann Edgar zu murmeln. Dann räusperte er sich und sprach mit klarer, deutlicher Stimme weiter.

»Ja«, begann er, »wir können den Körper sehen.«

»Schreiben Sie das mit!« bat Layne den Richter.

Dieser blickte ihn hilflos an. Der nächste Bleistift war in der Küche, an die Einkaufsliste gebunden.

»Im normalen Zustand«, fuhr Edgar fort, »ist dieser Körper nicht in der Lage zu sprechen. Ursache ist eine teilweise Lähmung der unteren Muskeln der Stimmbänder durch nervliche Überanstrengung. Es handelt sich also um eine psychische Ursache, die körperliche Symptome zeitigt. Diese können durch eine Aktivierung der Zirkulation in den betreffenden Körperteilen beseitigt werden, die durch Suggestionen in diesem unbewußten Zustand bewirkt wird.«

»Die Durchblutung der betroffenen Teile steigert sich jetzt«, gebot Layne, »und der kranke Zustand wird so normalisiert.« Edgar schwieg. Die Umstehenden beobachteten seinen Hals. Der Richter beugte sich über seinen Sohn und lockerte noch etwas dessen Hemd. Allmählich begann sich der obere Teil von Edgars Brust zu färben, dann wurde auch der Hals rötlicher. Das anfängliche Rosa wurde dunkler, schließlich Tiefrot. Zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten vergingen.

Edgar räusperte sich wieder.

»Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte er. »Geben Sie nun die Suggestion, daß sich die Zirkulation wieder normalisiert und der Körper wieder aufwacht.«

»Die Zirkulation wird nun wieder zu einem Normalmaß zurückkehren«, gebot Layne. »Danach wird der Körper wieder erwachen.«

Das Dunkelrot verblaßte allmählich, wurde Hellrot und schließlich wieder Zartrosa. Die Haut nahm wieder ihre normale Farbe an. Edgar wachte auf, setzte sich auf und langte nach seinem Taschentuch. Er hustete und spie Blut.

»Hallo!« sagte er zaghaft, versuchsweise.

Dann grinste er.

»He!« rief er. »Ich kann sprechen! Ich kann wieder sprechen!«

Seine Mutter weinte. Der Vater faßte seine Hand und schüttelte sie wieder und wieder.

»Mein guter Junge! Guter Junge! Guter Junge!« sagte er.  …]